Kunstgeschichtliche Einordnung

„Zur bestimmten Zeit werden die Notwendigkeiten reif“, schrieb Wassily Kandinsky Anfang des 20. Jahrhunderts. Der russische Maler, Wegbereiter der abstrakten Kunst, glaubte fest an schöpferische Kräfte im Menschen, die durch den „schaffenden Geist“ stimuliert würden. Der kreative Prozess beruhte für ihn auf Impulsen, die aus höheren Welten herrühren.

Der Künstler wird demnach dazu bewegt, wenn nicht gar gedrängt, Neues auszuprobieren – neue Formen und neues Denken hervorzubringen. Auf solcherart Impulse sind schließlich die Umbrüche und Paradigmenwechsel zurückzuführen, über die die Kunst- und Kulturgeschichte im Detail zu erzählen weiß. Der einzelne Künstler, so Kandinsky, unterliege dem Zeitgeist, welcher zu einzelnen Formen zwinge, „die einander verwandt sind und dadurch auch eine äußerliche Ähnlichkeit besitzen“.

Blicken wir auf den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zurück, jene „große geistige Epoche“, die laut Kandinsky so stark vom „schaffenden Geiste“ inspiriert wurde, sehen wir in der Tat, dass sich ein tiefgreifender Wandel vollzog: Während die einen noch über Dekadenz, Nihilismus und Untergang klagten, kam es in ganz Europa und darüber hinaus zu einer unverhofften kulturellen Blüte und Erneuerung, die von einem revolutionären Bewusstseinswandel kündete. Es war das Ende des dreidimensionalen Raumes und damit der Anfang einer neuen Beziehung zur Welt, zum Leben, zu uns selbst. Geänderte Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen schufen den Zugang zu unbekannten Räumen, deren Türen seither weit geöffnet stehen. Eine neue Zeit war eingeläutet, wobei der Prozess allenfalls mit dem Übergang zur Renaissance verglichen werden kann, welche das Mittelalter ablöste.

Betritt man das Atelier von Manfred Röttcher, fühlt man sich an den Beginn der künstlerischen Moderne versetzt, der „großen geistigen Epoche“, von der Wassily Kandinsky sprach: Die Grafiken und Gemälde sind voller leuchtender Farben, dynamischer abstrakter Elemente und kubistischer Raumgestaltungen. Die methodische Vielfalt zeigt, dass jener Impuls, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts unsere Kultur von Grund auf veränderte, hier in Röttchers Reich ganz selbstverständlich fortlebt.

Manfred Röttchers Œuvre erscheint als das Erbe der modernen Kunst als solcher, lässt sich jedoch nur schwer auf einen bestimmten Stil festlegen – während bei den meisten Künstlern von der Früh- bis zur Spätphase Wandlungen auszumachen sind, malt er über die Jahre gleichzeitig in verschiedenen Stilrichtungen. „Ich denke blau“, sagt Manfred Röttcher und ergänzt: „Das hat mir der Herrgott gegeben.“ Im freien kreativen Ausdruck seiner Malerei sieht er sich dem Göttlichen verbunden. Er fühlt es und ahnt es, dass ihm das „blaue Denken“ aus einer Quelle mit tausend Namen zuströmt. Wenn er also vom „Herrgott“ spricht, so geht es ihm nicht um traditionelle Religiosität, schon gar nicht um irgendeine Frömmigkeit. Sein Gottesdienst sei die Malerei. Hier kommt er zur Ruhe, ist ganz bei sich. „Es ist wie eine Heimkehr in die blaue Unermesslichkeit.“

(Auszug aus „Cyril Moog: Wandlungsreich – Der Maler und Grafiker Manfred Röttcher im Porträt“)